Die Schule der Kunst des Neuen. Einige Lehrsätze (1991), S. 11-13:
„1.1 Wir bedürfen immer wieder des Neuen. Das Streben danach heißt Neugier.
1.2 Das Gegenteil des Neuen ist keineswegs das Alte oder Bewährte, sondern das allzu Gewohnte oder Abgebrauchte, wie auch das Neue selbst nicht einfach mit dem Jungen gleichzusetzen wäre.
1.3 Vielmehr ist das Neue ein noch nicht Dagewesenes; es hat etwas Zartes, Leuchtendes und fasziniert. Weil es nicht vertraut ist, mag es aber auch erschrecken, ja schockieren.
1.4 Das Neue läßt stets Gewohntes hinter sich, aber nicht jedes Ablegen von Gewohntem erschließt Neues. Das Neue ist nicht modisch.
1.5 Es gibt keine Methoden, das Neue zu entdecken, wohl aber eine Disposition: Das offene Ohr, der freie Blick.
1.6 Das Neue gilt es zu finden, und hierfür bedarf es ehestens des Suchens, Forschens, Experimentierens – auch der Intuition oder eine sechsten (siebenten, achten…) Sinns. Aber nicht jede Suche findet.
2.1 Letztlich kann neue Musik, neue Kunst – auch neues Leben nicht gelehrt werden; es gibt hierfür keine Pädagogik und Didaktik.
2.2 Wohl aber läßt sich an der Musik der Vergangenheit lehrend zeigen, was da einmal neu war, ungewohnt und verstörend; und es läßt sich im gegenwärtigen Wiederhören das Ohr schärfen für das, was dereinst eruptiv zutage kam – Musikgeschichte als eine der Entdeckungen; musikalische Analyse als eine der Abweichungen von der Norm.
2.3 Und natürlich läßt sich das Spiel Neuer Musik lehren, ja es muß gelehrt werden, denn von richtig/falsch bzw. nachlässig/genau hängt da mehr ab als bei der Interpretation traditioneller Musik.
2.4 Des weiteren läßt sich pädagogisch und didaktisch der Sinn fürs Neue stimulieren und fördern. Freilich doch nicht so sehr als Lehre – z.B. im frontalem Unterricht, wo sich Musikgeschichte und Analysen ganz gut vermitteln lassen – als in Kommunikation.
2.5 Tatsächlich wird die Bereitschaft, das Neue zu entdecken, ehestens kommunikativ entdeckt, und zwar aufgrund der stets vorhandenen Neugier – wie etwa bei physikalischen und chemischen Experimenten oder bei botanischen Exkursionen.
3.1 Der Live-Vollzug ist wesentlich: Konzerte bzw. Veranstaltungen, die das Neue unkonventionell und attraktiv vorführen; oder eben – bzw. davor– Arbeitsgemeinschaften, in denen die Arbeit am Neuen spielend und spielerisch, aber auch mit Konzentration gelehrt wird.
3.2 Der die Leiter(in) ist dann Animateur: Anreger, nicht nur sachverständig, sondern selbst von der Sache begeistert.
3.3 Und Kommunikation: Fragen stellen/beantworten, gegenseitig Kritik üben, gemeinsam Ideen entwickeln.
3.4 Nochmals: der Animateur als Leiter – aber nicht von oben herab; mit dem Neuen hat jeder Schwierigkeiten, weil es selbst schwierig ist – unverständlich, verworren, sperrig, mit scharfen Ecken.
4.1 Das Neue ist nicht nur erwünscht, sondern ruft vielfach Widerstand hervor. Auch damit sich gemeinsam auseinanderzusetzen. Toleranz üben – im Wortsinn und in vielfältiger Weise.
4.2 Erste Voraussetzung: Enthusiasmus. Die Arbeit am Neuen braucht Amateure – Liebhaber.
4.3 Aber nicht missionieren – «überzeugen ist fruchtbar» (Benjamin); die Kraft geht vom Neuen selbst aus.
4.4 Begeisterung ist kein Dauerzustand: sie kommt und geht; kommt auch wieder. Dazwischen liegt geduldige Mühe – üben, nachdenken, verschiedene Lösungen versuchen; auch scheitern und Depression. Am Ende ist man um einige Erfahrungen reicher. (Und wahrscheinlich kann man auch mehr: ein Ziel solcher Arbeit ist auch die Professionalität.)
5. Dann Neubeginn – mit dem Neuen. In der Musik und sonst.“ (Hans-Werner Henze)